Uninteressierte Kenntnisnahme

Mittwoch, 19.10.2022

Der Großvater des Verfassers war Straßenbahnfahrer. Er fuhr fast sein ganzes Berufsleben lang die Elektrische. Jeden Tag freute er sich auf seinen Dienst. Fast jeder kannte und grüßte ihn. Am Tag seiner Pensionierung brachten Fahrgäste Geschenke mit in die Tram. Die Zeiten haben sich geändert. Der Beruf „Fahrdienst-Mitarbeiter im öffentlichen Bus- und Schienenverkehr“ hat an Attraktivität verloren. Von 87.000 Stelleninhabern (in Mitgliedsunternehmen des Verbandes VDV) müssen in den kommenden acht Jahren 40.000 ersetzt werden, der größte Teil wegen des Erreichens der Altersgrenze.

Doch das ist kein plötzlicher Schicksalsschlag, sondern war lange absehbar. Der demographische Wandel betrifft alle Branchen. Handwerksbetriebe investieren daher durch betriebliche und überbetriebliche Ausbildung in ihr künftiges Personal; sie binden gute Kräfte durch gute Konditionen. Die Busunternehmen hätten das genauso tun müssen. Berufskraftfahrer ist ein Ausbildungsberuf. Jetzt hören wir aber, dass offenbar kaum ein Betrieb in unserer Region ausbildet, sondern darauf hofft, dass junge Menschen von alleine kommen und den teuren Busführerschein bereits mitbringen. Niemand bildet sich auf eigene Kosten zum Schreiner oder Dachdecker aus. Warum sollen das Busfahrer tun?

Das führt zu der Frage, wie der Landkreis im Jahr 2016 den Stadtbusbetrieb qualitativ ausgeschrieben hat. Welches Gewicht legte er auf die Zuverlässigkeit der Bewerber? Erkundigte er sich nach der Personaldecke und -reserve? Fragte er nach der Zahl der neu ausgebildeten Busfahrer pro Jahr? Interessierte er sich dafür, ob das Unternehmen übertariflich zahlt oder nicht? Wappnete er sich gegen die Schlechterfüllung? Sah er Kündigungsmöglichkeiten und Vertragsstrafen vor? Vereinbarte er Gleitklauseln und Frühwarnsysteme? Wohlgemerkt: Der Landkreis hatte mit Eisele ja einen zuverlässigen Anbieter. Der wurde Opfer der Ausschreibung.

Der Landrat reagiert auf das Desaster so, als sei er der Pressesprecher der Busbranche. Er nimmt unwidersprochen Narrative entgegen: „Es gibt hier ja keine Wohnungen für Busfahrer“. Zur gleichen Stunde waren bei Immoscout 19 freie Wohnungen im Landkreis ausgewiesen, die auch für Busfahrer erschwinglich sind. Er deutet an, die Verkehrswende müsse man jetzt wohl verschieben. Sind Klimawandel, Staus und Luftverschmutzung plötzlich kein Thema mehr? Er gibt zu verstehen, dass es beim halben Takt bleibt und sich vielleicht die Schulen den Busunternehmen anpassen müssen. Aber Politiker sind doch keine Chronisten des Elends, sondern haben den Auftrag, alles Mögliche zu tun, um es zu beenden. Es ist, wie es ist – das ist keine Politik, sondern uninteressierte Kenntnisnahme.

Quelle: landsbergblog, www.landsbergblog.info. Zurück zum Artikelfeed